Sie sind auch in ihrer Nachbarschaft, aber vielleicht wurden sie bisher kaum wahrgenommen: Unscheinbare Häuser in Wohngegenden, die als Zentren für Bürger*innen Freizeitgestaltung und konkrete Hilfe anbieten. Wir haben zwei Paritätische Einrichtungen in Berlin besucht.
Das Rollbergviertel in Norden von Neukölln. Prägend sind die sogenannten Mäanderbauten, ein Ensemble verschiedener relativ flacher Wohngebäude aus den 60er Jahren, an denen zuerst ihre achteckige Form auffällt. Gebaut als klassischer sozialer Wohnungsbau. Auch wenn sich hier vieles seit Jahrzehnten optisch kaum verändert hat, haben sich in der Rollbergstraße die Angebotsmieten zwischen 2009 und 2015 verdoppelt. Der Kiez ist beliebt, viele wollen zwischen dem Tempelhofer Feld und der Kneipenmeile Weserstraße wohnen. Und der Kiez wird damit immer teurer für die Alteingesessenen.
Mittendrin steht das Bürgerzentrum Neukölln, eine Paritätische Einrichtung, die sich vorwiegend, aber nicht nur an ältere Menschen richtet. Cengizhan Yüksel ist 29 Jahre alt und hier seit 2020 Geschäftsführer. In dieser Funktion ist er auch an der Paritätischen Akademie Berlin. Insgesamt ist der studierte Verwaltungswissenschaftler seit 2011 im Paritätischen Umfeld aktiv. Das Bürgerzentrum selbst ist deutlich älter als ihr Geschäftsführer. Bereits 1983 eröffnete die Einrichtung, die damals noch „Haus des älteren Bürgers“ hieß. Dr. Gabriele Schlimper, heute Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Berlin, war hier auch einmal Geschäftsführerin.
Mit der Entscheidung, das Angebot auf breitere Schichten auszuweiten, wurde es vor einigen Jahren zum Bürgerzentrum, auch um den sich seit einigen Jahren stark verjüngenden Kiez Neuköllns abzubilden. „Der Schwerpunkt bleibt aber weiterhin die offene Senior*innenenarbeit“, erklärt Yüskel.
30.000 bis 40.000 Besucher*innen hat das Bürgerzentrum im Jahr, zumindest wenn kein Corona herrscht. Die Bandbreite geht von Senior*innen in Grundsicherung bis zu sehr vermögenden älteren Menschen. Hier ist weniger wichtig, wie hoch die Rente oder der Kontostand ist, sondern dass sich jeder die Freizeit im Bürgerzentrum leisten und die gleichen Angebote wahrnehmen kann. Das Angebot reicht von Gärtnern über Kegeln bis hin zum Tanztee, den vor Corona schonmal 150 Leute besuchten. Auch viele kreative Angebote bietet das Bürgerzentrum – alles selbstverwaltet. Das Bürgerzentrum stellt in erster Linie die Infrastruktur. Wichtig ist, dass die Besucher*innen ihre eigenen Ideen von Freizeitgestaltung entwickeln und umsetzen anstatt etwas vorgesetzt zu bekommen. Cengizhan Yüksel: „Es ist uns wichtig, dass sie Senior*innen selbstorganisiert sind und dadurch ihre Idee von Gemeinnützigkeit in die Welt tragen.“
Von Senior*innen für Senior*innen
Eine davon ist Inge Schwarzer, Jahrgang 1950. Sie ist mit 58 Jahren in Altersteilzeit gegangen und mit viel Zeit, wie sie sagt. Zunächst fing Frau Schwarzer als Lesepatin in einer Neuköllner Schule an, heute leitet sie die 14-köpfige Handarbeitsgruppe mit Damen im Alter von 54 bis 90 Jahren. „Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich die wenigste Geschicklichkeit habe“, sagt die Seniorin und lacht. Sie selbst organisiert Buchhaltung und Verkauf. Denn was in dieser Gruppe und anderen gefertigt wird, wird für den guten Zweck verkauft. Und da kommt einiges zusammen: „Wir haben am Schluss weit über 1000 Euro gespendet“, freut sich die Berlinerin. Das hat unter anderem die Automatiktüren des Bürgerzentrums mitfinanziert oder wurde für Bedarfsgegenstände für obdachlose Menschen ausgegeben.
Ortswechsel. Berlin Wedding. Hier steht die Fabrik Osloer Straße. Die Einrichtung residiert in einer der klassischen Berliner Hinterhof-Fabriken, wie man sie früher auch in Wohnvierteln gebaut hat. Der Fabrikant Albert Roller ließ hier ab 1870 Maschinen für die Zündholzproduktion herstellen. Als die Firma in den siebziger Jahren insolvent ging, entdeckten verschiedenste Initiativen das große und zentrale Hinterhof-Gelände, um fortan soziokulturelle Arbeit zu fabrizieren. Wären die attraktiven Fabrikgebäude nicht früh einer gemeinnützigen Kiezarbeit gewidmet worden, würden hier vielleicht wie anderorts Start Ups jetzt Apps programmieren.
Es ist bereits viel los an diesem verregneten Mittwochmorgen in der Fabrik. Freiwillige Helfer*innen bereiten ein kleines Kiezfrühstück im Eingangsbereich vor. Unzählige Vereine und Projekte finden seit Jahrzehnten in der Fabrik Osloer Straße ihr Zuhause. 20 davon listet die Homepage auf. Von der Schreibabyambulanz über die Druckwerkstatt bis hin zur Gewaltprävention findet sich hier fast die gesamte Bandbreite der gemeinnützigen Arbeit.
Lieber Soziale Arbeit als Wirtschaft
Ein paar Meter weiter treffe ich bereits meine Interviewpartnerin Aliye Stracke-Gönül. Die quirlige Frau ist seit Ende 2020 Geschäftsführerin der Fabrik und war zuvor beim AWO Bundesverband Referentin für den Bereich Migrationsberatung für Erwachsene zuständig. Zuvor hatte sie eine Banklehre gemacht, ein Studium im Bereich Politik und Organisation absolviert und einige Jahre im Ausland gearbeitet. Irgendwann, so entschied sie, wollte sie aber nicht mehr in der Wirtschaft arbeiten und wechselte in den sozialen Bereich. Damit ist Frau Stracke-Gönül auch geographisch zurück zu ihren Wurzeln gekehrt, denn zwei Straßen weiter von der Osloer Straße ist sie aufgewachsen und ihre Eltern wohnen bis heute dort. Schon früh ist sie in die Putte in der Osloer Straße gegangen, eine der wenigen Einrichtungen und Treffpunkte für Migrant*innen im Kiez. Frau Stracke-Gönül weiß also ganz genau, worauf es ankommt: „Wir wollen, dass die Menschen im Kiez wissen: Wenn ich etwas brauche, dann gehe ich in die Fabrik Osloer Straße.“
Zunächst gibt mir die Geschäftsführerin eine Führung durch den großen Gebäudekomplex der Fabrik. Halt machen wir bei Durchbruch e.V. Jugendliche, die Probleme haben und woanders keine Ausbildung absolvieren können, werden hier zu Installateuren ausgebildet.
Thomas Knaak ist hier Ausbildungsleiter und erzählt, wer alles bei ihm eine Ausbildung macht: „Im Moment haben wir eine große Menge an Flüchtlingen. Ansonsten haben wir Jugendliche mit verschiedenen Problemlagen wie Alkoholkonsum, Drogen, Gewalt, psychische und schulische Probleme. Halt alles, was die Großstadt zu bieten hat.“ Durchbruch ist dabei erfolgreich. 90 Prozent der Jugendlichen schaffen hier ihren Berufsabschluss. Auch das ist Gemeinnützigkeit: Da wo der freie (Ausbildungs-)Markt nicht weiterhilft, springen gemeinnützige Vereine ein.
Wenn die Quadratmeterpreise steigen
Gentrifizierung ist die wohl derzeit größte Bedrohung für die Gemeinnützigkeit. Cengizhan Yüksel aus dem Bürgerzentrum Neukölln weiß: „Gerade in dem sich verändernden Kiez, in dem sich viel auf schön verkleidete Profitmaximierung ausrichtet, wird bezahlbarer Raum knapp. Egal wie viele Akteure unterwegs sind: Es stellt sich immer auch die Frage, wem die Liegenschaften gehören und was die Eigentümer damit machen.“ Man könne inzwischen für über 30 Euro pro Quadratmeter für ein Ladenlokal in Neukölln nehmen. Soziale Träger könnten das nicht stemmen.
Aliye Stracke-Gönül verbindet damit auch eine persönliche Geschichte: „Ich habe Berlin vor über 20 Jahren verlassen und erst da ist mir das Thema aufgefallen.“ Dass der Wedding im Kommen ist, ist ein Running Gag in der Berliner Bubble. So schlimm wie in Neukölln ist es noch nicht, aber auch hier werden steigende Mieten und Verdrängung ein zunehmendes Problem. „Wir sind vergleichsweise noch gut dran“, meint Stracke-Gönül über ihren Kiez. Bezahlbare Wohnungen oder Einrichtungen sind auch hier zunehmend Mangelware, besonders für Familien, die immer öfter in der Fabrik Beratung suchen.
Die Fabrik und das Bürgerzentrum sind in ihrer Struktur unterschiedlich aufgestellt. Das Bürgerzentrum ist auch ein sogenanntes „Haus der Parität.“ Das Logo steht unübersehbar am Eingang. Und es bedeutet Sicherheit, da diese Häuser, die man in ganz Berlin findet, Liegenschaften des Landesverbandes, der Mitgliedsorganisationen oder der Stiftung sind. „Räume die wir anbieten, würde jeder Unternehmer anders verwerten. Wenn man es anders gewinnbringend vermarkten könnte, wäre hier kein Platz für Gemeinnützigkeit“, ist sich Yüksel sicher. „Damit werden wir zu einem Hafen für Ehrenamt und Gemeinnützigkeit in diesem sehr gefragten Szeneviertel.“
Nicht auf Profit aus
Etwas anders ist es im Wedding. Das Gebäude der Fabrik Osloer Straße gehört der GSE, einer gemeinnützigen GmbH, die sich der dauerhaften Sicherung von sozialen Einrichtungen verschrieben hat und Treuhänderin des Landes Berlin ist. Die Vereine und Projekte sind Mieter*innen und Mitglieder des Vereins Fabrik Osloer Straße e.V. Hier kommen ihr auch ihre Erfahrungen in der Wirtschaft zugute: „Als Verein sind wir darauf angewiesen, unsere Arbeit nicht im wirtschaftlichen Sinne zu sehen. Auch die Vermietung von Räumlichkeiten müssen sich die Organisationen leisten können.“ Denn die steigenden Gewerbemieten sind auch im Wedding ein Problem: „Wir wollen nichts verdienen, sondern den Organisationen, die sich die steigenden Mietpreise nicht mehr leisten können, einen Ort schaffen.“ Das zeigt sich auch in der Mitarbeiter*innen-Struktur, denn hier hat niemand eine volle Stelle. „Wir würden uns eine festere und langfristigere Finanzierung wünschen. Wir sind von Fremdfinanzierungen abhängig“, so Stracke-Gönül.
Dafür muss man aber gewisse Abstriche machen, auch an den Örtlichkeiten. Das alte Gebäude in der Osloer Straße kann nicht umfassend isoliert werden, so dass es im Sommer oft zu warm und im Winter zu kalt ist. Immerhin die Fenster entsprechen inzwischen den neuesten energetischen Standards. Auch in Neukölln könnte das ein oder andere mal erneuert werden. Der Aufzug, immens wichtig für die älteren Damen und Herren, stammt noch aus den achtziger Jahren. Seine Technik hat im Keller die Größe von zwei Schränken und sieht aus wie ein antiker Supercomputer. Hinzu kommen noch zwei beeindruckende, raumnehmende Ölwannen, die für den Betrieb des Aufzugs unerlässlich sind.
Gemeinnützige Einrichtungen wie das Bürgerzentrum Neukölln und die Fabrik Osloer Straße übernehmen fundamentale Aufgaben vor Ort, aus denen sich der Staat teilweise zurückgezogen hat. Eigentlich sollte man ihnen den roten Teppich ausrollen, aber oftmals ist das Gegenteil der Fall. Aliye Stracke-Gönül beklagt beispielsweise eine gewisse Skepsis von Seiten einiger Behörden, wenn es ums Geld geht. „Ich kann aber alle beruhigen: Wir haben jedes Jahr eine Steuerprüfung, einen Jahresabschluss, müssen Verwendungsnachweise erbringen und sind sehr offen und transparent“ sagt sie. Große Sprünge könnte man sowieso nicht machen. Hier arbeitet niemand, der oder die reich werden will. Hier geht es um die Menschen vor Ort.
Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Vorfahrt für Gemeinnützigkeit" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.
Gemeinnützigkeit heißt: Gewinne fließen nicht in die Taschen einzelner, sondern gehen dorthin, wo sie gebraucht werden. Deswegen fordern wir: Vorfahrt für Gemeinnützigkeit!
Zum Start unserer neuen Themenoffensive "#EchtGut – Vorfahrt für Gemeinnützigkeit" beschäftigt sich unser zweites Verbandsmagazin im Jahr 2022 mit der gemeinnützigen Arbeit unserer Mitglieder. Wir haben Einrichtungen besucht, in denen sich jede*r den Besuch leisten kann, die von Verdrängung bedroht sind und die kreativ arbeiten. Dass das nicht immer leicht ist, mussten wir auch öfter erfahren. Unsere Interviewpartner*innen erzählen uns, warum Gemeinnützigkeit sich trotzdem lohnt und warum sie in der Flüchtlingshilfe, in der Frauen- und Lesbenarbeit, in der Pflege oder in ihrem Landesverband aktiv sind und warum sie es gern tun. Hintergrundartikel und Spannendes zur #EchtGut-Kampagne gibt es ebenso wie das Neueste aus dem Gesamtverband und unseren Landesverbänden.