Die Selbsthilfe in Deutschland ist hart betroffen von der Corona-Pandemie. Treffen von Selbsthilfegruppen finden nicht oder kaum noch statt. Rheumatiker*innen beispielsweise können zudem das für sie wichtige Funktionstraining in Gruppen nicht wahrnehmen. Zwar gibt es die Möglichkeit, dass Gruppen sich zu Videokonferenzen verabreden können und auch eine Reihe digitaler Bewegungsangebote, aber sie sind kein Ersatz für echte Begegnungen. Es fehlt das vertraute Miteinander und der Austausch.
In Marianne Korinths Smartphone regnet farbenfrohes Konfetti herab: Sie ist heute ihre 6.000 Schritte schon gegangen und wird dafür bunt belohnt. Bewegung ist für die 59-jährige Bremerin das A und O, damit ihre Beweglichkeit trotz der schweren Rheumaerkrankung erhalten bleibt. Schon vor 15 Jahren hatte sie einen ersten und schweren rheumatischen Schub, lag mehr in Kliniken als zu Hause. Viele Therapiemethoden hat sie in diesem ersten Jahr ihrer Erkrankung ausprobiert. Geholfen hat am meisten Bewegung im warmen Wasser. Und diese Erfahrung war später ihre Brücke zur Deutschen Rheuma-Liga. Denn die mit 300.000 Mitgliedern größte deutsche Selbsthilfeorganisation im Gesundheitsbereich bietet in allen Landesverbänden und dem Mitgliedsverband Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew das sogenannte Funktionstraining an. Auch für Nicht-Mitglieder. Es wird von einem Arzt verordnet und findet entweder als Warm-wassergymnastik oder in einer Halle als Trockengymnastik und vor allem immer in einer Gruppe statt. Denn Studien zeigen: Rheuma-Betroffene kommen mit ihrer Krankheit in Gesellschaft besser zu recht. Die Gespräche mit anderen Betroffenen tun der Seele gut und fördern die Resilienz.
Allein in Bremen sind es rund 8000 Rheumabetroffene, die von 450 Kursen der Deutschen Rheuma-Liga profitieren bzw. profitierten – bis Mitte März 2020. Denn seit der Corona-Pandemie ist alles anders – nicht nur in Bremen, sondern bundesweit fallen die professionell angeleiteten Funktionstrainings aus. Dies kann mitunter für Rheumatiker*innen schlimme Folgen haben: Starke Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Nicht nur die Bewegungsangebote in Gemeinschaft finden nicht statt, auch die Selbsthilfegruppen der Rheumatiker*innen haben eine Zwangspause. Marianne Korinth leitet solch eine Selbsthilfegruppe für 30- bis 60-Jährige von Rheuma Betroffene seit vielen, vielen Jahren. „Hier darf man auch mal zeigen, wenn es einem nicht gut geht und nichts kaschieren“, erzählt sie. Hier informieren sich Menschen über ihre Diagnosen, über Erfahrungen mit Medikamenten und Behandlungsoptionen. Mit Betroffenen, für Betroffene.
Funktionstraining jetzt via WhatsApp
Marianne Korinth bleibt seit März 2020 mit allen aus der Gruppe in Kontakt. Sie fühlt sich als Gruppenleiterin für einen Dialog untereinander verantwortlich – trotz Corona oder vielmehr wegen Corona. Manchmal fragt sie schlicht in die Runde, „wie geht es Euch allen?“ Oder weist auf digitale Angebote der Rheuma-Liga hin, verschickt die Newsletter des Landesverbands oder andere Informationen. Über WhatsApp hat sie u.a. für das 20-minütiges Funktionstraining des Landesverbands Bremen geworben. Es wurde mit einem der besten Physiotherapeuten, der mit Rheumatiker*innen arbeitet, gedreht. Es soll jeden und jede motivieren, in Bewegung zu bleiben. „Das Video ist toll“, findet Marianne Korinth, „aber ich gebe zu, es fällt mir allein viel schwerer, meinen inneren Schweinehund zu überwinden und das Training zu absolvieren.“ Sie findet es auch bedenklich, dass niemand kontrolliere, ob sie die Übungen richtig mache, eventuell könne sie sich selbst schaden. „Im Kurs kennt mich der Anleiter, er sagt dann schon mal, „Frau Korinth, Sie mit Ihrer Schulter, bitte lassen Sie diese Übung aus.“ Ebenso hat der Landesverband Baden-Württemberg ein umfangreiches Online-Bewegungsprogramm ins Netz gestellt, niedrigschwellig und allen zugänglich. Auch die Entspannungs-App Rheuma-Auszeit hilft den Mitgliedern in der Corona-Zeit . Es mangelt also nirgends an kreativen Ideen, um die Zeit der Kontaktbeschränkungen zu überbrücken.
Fakt ist hierbei: Die Digitalisierung hat mit der Corona-Pandemie die Selbsthilfebewegung erreicht. Das Thema ist so bedeutsam geworden, dass beispielsweise die Selbsthilfebüros der Paritätischen Projekte gGmbH in Hessen gemeinsam mit dem Selbsthilfe e.V. Frankfurt am 14. November 2020 ihren 1. Virtuellen Selbsthilfetag mit rund 200 Teilnehmenden veranstaltet haben. Obwohl virtuelle Treffen für Selbsthilfe-Gruppen ungewohnt und nicht vorgesehen sind. Die Selbsthilfe lebt schließlich von persönlichen Kontakten und dem Austausch in größeren Runden. Jetzt sind es Video- und Telefonkonferenzen, der YouTube-Kanal, Facebook oder WhatsApp, mit denen sich beholfen wird. Aber die Bilanz der digitalen Fachveranstaltung in der Tagungsdokumentation des Paritätischen Landesverbands Hessen lautet: „Ohne persönliche Kontakte geht es auf Dauer nicht.“ Ein zweites Ergebnis ist, dass die Akzeptanz von Online-Angeboten noch darunter leidet, dass viele den Datenschutz im Netz und in Videokonferenzen, wo es ja um sehr persönliche wie vertrauliche Informationen geht, als nicht ausreichend gewährleistet ansehen. Die Verunsicherung ist noch groß. „Und gar nicht nur die Älteren sind skeptisch“, weiß auch Marianne Korinth, „auch die Jüngeren.“ Die Frage sei, wie geschützte Austauschräume geschaffen werden können, um auch die ganz Vorsichtigen zu überzeugen.
Warten auf die nächste Lockerung
Noch organisieren sich Selbsthilfe-Gruppen „eher unstrukturiert und nutzen kleinere Lösungen, wie über WhatsApp und mit dem Telefon zu kommunizieren“, schildert Romy Kauß, Referentin Gesundheit und Selbsthilfe im Paritätischen Landesverband Sachsen-Anhalt. Aber die Präsenzlücke schmerzt, oft werde nachgefragt, wann es endlich wieder richtig losgehe. Allein in Sachsen-Anhalt gibt es rund 1.200 Selbsthilfegruppen, die darauf warten, sich wieder regelmäßig in gewohnter Weise – im echten Leben – treffen zu können. Bundesweit, so schätzt die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS), sind es zwischen 70.000 und 100.000 Selbsthilfegruppen mit etwa 3,5 Millionen Engagierten. Alle warten. Und nun steht die Ampel wieder auf Rot und auf Stopp für die Gruppentreffen. Niemand kann sagen, wann die nächste Lockerung kommt, wann Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden. Auch wenn seit März 2020 Beratungs-, Unterstützungs- und Bewegungsangebote in verschiedenen medialen Formaten auch für die Selbsthilfe zunehmen, „werden viele dieser digitalen Angebote, wie zum Beispiel ein Gruppentreffen als Videokonferenz, nicht gut angenommen“, bedauert Romy Kauß. Es sei noch ein langer Weg, bis die Chancen der Digitalisierung von allen gesehen werden. „Das dauert noch zehn Jahre“, schätzt sie. Ursula Faubel, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Deutschen Rheuma-Liga, hofft, dass die vielfältigen Online-Formate langfristig dazu führen, „dass zunehmend mehr Menschen sich an Selbsthilfe-Angeboten beteiligen können“. Denn heute noch könne eine eingeschränkte Mobilität oder eine zu lange Anfahrt Interessierte ausschließen.
Endlich mal wieder ins Wasser steigen
Die Vorteile der Digitalisierung sind in vielen gesellschaftlichen Feldern nicht von der Hand zu weisen. Aber ein reines Online-Erleben wird sich wohl in der Selbsthilfe wie auch bei den Funktionstrainings für Rheumatiker*innen nicht durchsetzen und hat seine Grenzen, weil das gemeinschaftliche Erlebnis ausbleibt. Marion Korinth möchte nicht nur lieber wieder ins warme und wohltuende Medium Wasser steigen können, um ihre Übungen zu machen, sie möchte auch lieber das Schnattern, Jammern und Lachen ihrer Partner*innen hören als nur dem leisen Konfettiregen auf ihrem Smartphone zuzusehen. Sie möchte auch in ihrer Selbsthilfegruppe Neuankömmlinge persönlich begrüßen und wieder gemeinsam das letzte Jahr mit einem gemeinschaftlichen Weihnachtsessen abschließen. Viele Landes- und Mitgliedsverbände der Deutschen Rheuma-Liga bereiten sich nun darauf vor, „dass Funktionstraining in einem Gruppensetting online anzubieten“, verrät Ursula Faubel. Noch aber arbeiten die Verbände an Lösungen, wie der Datenschutz gewährleistet werden kann. Selbst wenn hier alles in trocknen Tüchern ist, wird Marianne Korinth trotzdem noch nicht ihre heilsame Warmwassergymnastik machen können. So etwas wurde bislang online noch nicht erfunden, und leider weiß noch niemand, wann Stadtbäder oder Wasserbecken von Seniorenheimen wieder für Bewegungskurse der Deutschen Rheuma-Liga nutzbar sind. Aber gut, dass es noch buntes Konfetti als Motivationsmotor gibt.
Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Corona-Spezial II" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.
Zum zweiten und hoffentlich letzten mal widmet sich die erste Ausgabe des aktuellen Verbandsmagazins des Paritätischen der Corona-Pandemie. Stand unser erstes Heft zum Thema noch unter dem Stern der Unsicherheit, wie die Wohlfahrt mit der neuen Situation umgehen könnte, wollen wir nun verstärkt auf Erfolge und Lernprozesse blicken.
Wir ziehen ein Zwischenfazit und werfen einen besonderen Blick auf die Pflege, die noch einmal ganz besonders von COVID-19 herausgefordert wurde. Dem Gesundheitssektor widmen wir uns besonders, daher gibt es Reportagen und Berichte aus unsere Mitgliedsorganisationen Lebenshilfe, ASB, Das Boot Wismar, das Familenzentrum Radebeul und der Deutschen Rheuma-Liga. Außerdem haben wir einiges aus der Selbsthilfe, den Jugendherbergen und den Kitas erfahren sowie Behindertenrechtsaktivistin Nancy Poser interiewt.
Außerdem berichten wir unter anderen über unsere große Kampagne für die sofortige Anhebung der Regelsätze auf 600 Euro plus weiteren Leistungen,von Vielfalt ohne Alternative und zu vielen weiteren Themen aus dem Gesamtverband.