Im Arbeitslosenzentrum in Mönchengladbach kann man Beratung und Freizeitgestaltung bekommen. Karl Sasserath arbeitet dort und berichtet uns.

Herr Sasserath, die Arbeitslosenquote liegt in Mönchengladbach mit 10 Prozent fast doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt. Warum ist Mönchengladbach überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen?

Dazu würde ich erst einmal auf die Stadtgeschichte blicken. Mönchengladbach war ein Boomtown, der am Anfang des 19. Jahrhunderts entstand und durchaus vergleichbar war mit der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet. In Mönchengladbach war es allerdings Textilindustrie. Hier entwickelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts einer der führenden Standorte der Textilproduktion in Deutschland. Diese Stellung hatte Mönchengladbach sehr lange inne. Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist aber sehr konjunkturanfällig. In den 60er Jahren beginnt im Zuge der internationalen Arbeitsteilung und der Globalisierung der Niedergang. Wenn wir heute in unsere Klamotten sehen, lesen wir meist Bangladesch, Hongkong oder Indien als Herstellungsland. Bis 1983 verliert Mönchengladbach circa 100.000 Arbeitsplätze. Die ganze lokale Industrie entwickelte sich um die Textilindustrie. Wir haben im Grunde nach eine industrielle Monostruktur in Mönchengladbach und diese Monostruktur ist Anfang der 80er in der Krise. Wenn Sie heute die Frage nach Gründen für Arbeitslosigkeit stellen und warum die in Mönchengladbach ähnlich hoch ist wie zum Beispiel im Ruhrgebiet, dann finden sie da die Ursachen in dem bis heute nicht bewältigten Strukturwandel.

Aber jetzt gibt's ja vermeintlich gute Nachrichten für Arbeitslose, selbst wenn sie noch keine Jobs haben. Hartz IV ist Geschichte und das Bürgergeld ist da. Wie nehmen Ihre Klient*innen das auf?

Die Einführung des Bürgergeldes war ja politisches Vorhaben, das zeitgeschichtlich eingebettet war in die Corona-Pandemie sowie später in den Ukraine-Krieg. Beides hatte gravierende Folgen für die Lebenslagen von Menschen in prekären Situationen in Deutschland gehabt. Die gesamte Gesellschaft war betroffen von der Pandemie, aber Menschen in prekären Lebenslagen waren noch einmal ganz besonders betroffen, weil sich viele Nischen für sie in dieser Zeit geschlossen haben. Durch die Lockdowns und die Begrenzung der Mobilität haben viele Menschen Räume verloren, in denen sie noch ein Stück weit ihr geringes Einkommen abfedern konnten. Durch den Ukraine-Krieg liegt die Inflationsrate jetzt bei 8,7 Prozent. Wenn ich 5 € oder 2 € Regelsatz im Monat mehr habe, aber dann meine Kosten für Haushaltsenergie und Lebenshaltungskosten exorbitant steigen, sind durch die Einführung des Bürgergeldes die Menschen, mit denen ich arbeite, nicht in Jubelstürme verfallen. Hier hat niemand aufgeatmet und gesagt, dass es jetzt spürbar besser ist. Ein hauptsächlicher Grund liegt darin, dass die Regelsätze nicht bedarfsdeckend sind. Was der Staat den Menschen als Existenzminimum zuerkennt, deckt einfach nicht das ab, was gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen könnte.

Karl Sasserath vor dem Arbeitslosenzentrum Mönchengladbach © Georg Beer

Wie hoch müsste der Regelsatz aus Ihrer Sicht denn sein, um diesen Zweck zu erfüllen?

Ich würde sagen, er müsste mindestens 200 Euro höher sein. Das wäre meiner Ansicht nach ein Wert, bei dem ich sagen würde, damit wäre vieles leichter. Wir erleben hier immer stärker Krisen. In unserer Beratung haben wir 3200 Beratungskontakte im Jahr. Über diesen Weg habe ich einen intensiven Einblick in die individuelle Lebenslage und die wirtschaftlichen Verhältnisse von Menschen. Ich sehe Kontoauszüge, ich sehe die Mietzahlungen, die Rechnungen der Energieversorger oder Kreditverträge, die viele gar nicht mehr tilgen können. Wir haben so viele Aspekte in Lebenslagen, die ich wirtschaftlich nicht mehr im Hilfesystem unterbringen kann. Ich habe riesige Energierechnungen von alleinstehenden Haushalten, wo der Energieversorger auf einmal 3.000 Euro haben will und den monatlichen Abschlag auf 250 Euro erhöht, was denn die Hälfte des Regelsatzes ausmacht. Wir haben viele Verschuldungssituationen. Da stirbt ein Kind in einer Familie, die Bürgergeld bezieht, und da sind die Beerdigungskosten zu tragen. Oder der Installateur

muss bezahlt werden. Es wäre für uns als Einrichtung gut, wenn wir sowas wie einen Nothilfefonds verfügen würden, mit dem man Menschen spontan mal auf die Beine helfen könnte. Das sind im Moment nach der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg Entwicklungen, denen wir seitdem immer häufiger begegnen. Ein weiterer Aspekt ist: Natürlich hat die Stadt vieles unternommen, um den Strukturwandel in den Griff zu kriegen. Mönchengladbach ist heute einer der führenden Logistik-Hotspots in Deutschland. Viele große Logistikunternehmen wie Amazon, Zalando oder DHL finden sie hier. Und da sehen wir, dass dieser Hotspot tausende von Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Mittlerweile sind 70 Prozent der ratsuchenden Menschen im Arbeitslosenzentrum solche mit einer Migrationsgeschichte. Wir haben schon regelrechte Communitys unter unseren Ratsuchenden, zum Beispiel Geflüchtete aus Somalia, Eritrea, Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Das sind Menschen aus 80 Nationen. Dadurch ist unsere beratungsrechtliche Situation viel komplexer und anspruchsvoller geworden. Wir haben in fast jedem Leistungsfall inzwischen das Ausländerrecht mit drin. Und viele der Angehörigen aus dieser Gruppe sind selbst für prekäre Verhältnisse einkommensmäßig noch einmal ganz unten angesiedelt. Wir alle kennen die Bilder von Geflüchteten aus dem Mittelmeer. Auch die Ukrainerinnen und Ukrainer, die jetzt kommen, haben durchweg nichts. Keine Ressourcen und keine Sparvermögen. Das ist nochmal ein neues Gesicht von Armut.

Empfinden sich die Klient*innen eigentlich selbst als arm?

Das ist eine interessante Frage. Ich glaube schon, dass sich viele als arm empfinden. Wobei sich natürlich die Frage nach relativer und absoluter Armut stellt. Natürlich kennen unsere Leute auch die Situation von Erdbebenopfern in der Türkei und unterscheiden. Aber die Menschen, mit denen ich zu tun habe, wissen schon, dass sie arm sind. Aber wir versuchen mit Angeboten dagegen zu halten. Wir haben ein Mittagstisch-Angebot für 2,50 Euro pro Mahlzeit. Das ist einerseits für ein günstiges Angebot für Menschen in prekären Lebenslagen, aber auch zur Knüpfung sozialer Kontakte gedacht. Hier finden Menschen, die ansonsten alleine zuhause sitzen würden, einen Ort der Gemeinschaft schafft. Ein anderer wichtiger Aspekt ist: Wir haben in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Anteil von Menschen mit Handicaps. In Mönchengladbach haben wir die Zahl mal mit dem Jobcenter ermittelt. Hier haben 1600 Menschen einen Schwerbehindertenausweis. Und den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit kann ich sehr stark in unserer Einrichtung sehen. Auch für die sind unsere Gesundheitskurse gedacht. Unser Ansatz ist auch immer der gewesen, die Menschen eine Zeit lang ihre Armut nicht spüren zu lassen. Wir verstehen uns als Ort, der Menschen in einer schwierigen Lage ein zeitweiliges Wohlfühlen ermöglichen soll. Sie sollen hier Kräfte auftanken können, ein gutes Essen bekommen und neue Kontakte gewinnen können. Trotzdem wissen sie natürlich, dass sie arm sind. Aber hier können sie es auch mal für eine Stunde vergessen.


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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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